Kennen Sie diesen Witz?
Eine Autofahrerin (es kann natürlich auch ein Mann sein) ist auf der Autobahn unterwegs und hört eine dringliche Ansage im Radio: “Achtung, Achtung, auf der A7 befindet sich ein Geisterfahrer. Fahren Sie langsamer und überholen Sie nicht.”
Darauf sagt die Fahrerin: “Was? Nur ein Geisterfahrer? Es sind hunderte!!!”
Etwas verkürzt illustriert erlebt diese Autofahrerin soeben den Bias “Blind Spot”. Was ist dieser Blind Spot? Und wie wirkt er auf uns und in der Arbeitswelt?
(Was ist ein Bias? Bitte lesen Sie in unserem Blog Post hier eine Einführung zu Unconscious Bias / unbewusste Voreingenommenheit.)
Blind Spot (1) - die positive Voreingenommenheit gegenüber unseren eigenen Voreingenommenheiten
2015 haben Wissenschaftler untersucht (2), wie wir uns selbst einschätzen in Bezug auf unsere Biases. Und haben festgestellt: Wir sind alle etwas gar subjektiv. Wir haben nämlich die Tendenz von uns selbst zu glauben, dass wir weniger voreingenommen sind als die anderen. Während wir bei den anderen erkennen, dass unbewusste Vorurteile Auswirkungen auf ihr Urteilsvermögen haben, denken wir von uns selbst, wir seien objektiver und rationaler und wir könnten die richtige Realität erkennen.
Wie eben die Autofahrerin. Sie meint auch, sie könne nicht das Problem sein, sondern alle anderen machen etwas falsch. Ihr Verhalten - nämlich das Ignorieren der Gefahr, die durch sie ausgelöst wird - ist durch den Blind Spot Bias verursacht.
Der Bias «Blind Spot» ist somit ein Meta-Bias oder der Bias im Bias. Wir sind von uns selbst positiv voreingenommen, wenn es um unsere eigenen Voreingenommenheiten geht. Das heisst: Wurden wir zum Beispiel auf Voreingenommenheiten, die es im Rekrutierungsprozess gibt, geschult (oder lesen wir darüber wie in diesem Artikel), haben wir von uns selbst das Gefühl, dass wir davon «geheilt» sind; wir also nicht mehr drauf reinfallen werden. Nur die andern (auch wenn die genauso geschult sind wie wir).
Konkretes Beispiel aus der Berufswelt
Stellen Sie sich vor, Ihr Unternehmen rekrutiert derzeit für eine offene Position. Ihr Arbeitskollege (es kann natürlich auch eine Frau sein) ist ca. Mitte 30 und ist Schweizer. Bevor er in Ihr Unternehmen kam, arbeitete er in einem Startup. Heute arbeitet er mit Ihnen im Recruiting. Er ist für die Erst-Selektion zuständig in der besagten Stellensuche und erhält drei Bewerbungen. Jede Bewerbung hat ein Foto.
Bewerbung 1
Bewerbung 2
Bewerbung 3
Ihr Kollege entscheidet sich für die Bewerbung 1. Aufgrund Ihres Wissens über Biases bemerken Sie sofort, dass Ihr Kollege dies aufgrund des Just-like-me Bias entschieden hat (die Tendenz, dass wir Menschen einstellen, die so aussehen, wie wir selbst). Sie sind - aufgrund des Blind Spots - davon überzeugt, dass, falls Sie selbst die Erst-Selektion gemacht hätten, Ihnen das nie passiert wäre.
Ihr Kollege fragt Sie nun einen Tag später um Rat, welches Dossier Sie wählen würden. Auch Sie entscheiden sich für die Bewerbung 1. Aber anstatt nun wahrnehmen zu können (denn es passiert ja alles unbewusst), dass Sie soeben selbst aufgrund des Just-like-me-Bias entschieden haben und zudem in den Bias Blind Spot getappt sind, rationalisieren Sie Ihre Entscheidung. Durch die Rationalisierung überzeugen Sie sich selbst davon, dass es die richtige Entscheidung ist und dass Sie eben objektiver sind als Ihr Kollege. Genau das ist der Blind Spot Bias “in action”.
Konsequenzen des Blind Spot
In der Studie wurde auch evaluiert, ob die Stärke des Blind Spot eine Auswirkung auf das Verhalten hat. Es wurde festgestellt: Menschen mit grossem Blind Spot,
- schätzen ihre eigenen Fähigkeiten ungenauer ein im Vergleich zu ihren Kollegen*innen.
- haben die Tendenz, Rat von Kollegen*innen oder Berater*innen zu ignorieren.
- lernen von Trainings, die Bias im eigenen Verhalten beleuchten und die die Qualität der eigenen Entscheidungen verbessern könnte, am wenigsten.
Das stellt uns vor ein komplexes Problem. Denn vor allem Trainings und Beratungen in Bezug auf das Bewusstsein mit Biases ist meist der erste Schritt hin zu einem sorgfältigeren Umgang mit Entscheidungsprozessen und Urteilsfähigkeit in der Rekrutierung und Beförderung.
Was tun?
Erstens: Wir müssen uns eingestehen, dass unsere Realität nur eine der vielen Realitäten ist, die es gibt und es nicht nur eine richtige Realität gibt. «Wir sind subjektive Wesen, und daran ist nichts auszusetzen, solange wir genügend kognitive Flexibilität haben, um unsere Welt mit der Subjektivität der anderen zu bereichern. Das Zusammentreffen von zwei oder mehr Subjektivitäten ist es, was uns der Objektivität näher bringt.» (3)
Zweitens: De-bias Trainings sind sehr wichtig, aber sie schützen uns nicht davor, weiterhin voreingenommen zu sein. Im Gegenteil: gerade weil man mehr davon weiss, hat man das Gefühl noch mehr zu wissen als die anderen. Wir müssen uns also bewusst sein, das ein Training uns nicht «besser» macht als die anderen.
Drittens: Den Spiess umdrehen, indem man sich selbst von aussen betrachtet. Im Beispiel mit den Bewerbungen heisst das: Mein Kollege wie auch ich schreiben nieder, wieso wir die Bewerbung 1 wählen. Er liest mir meine eigene Begründung so vor, als ob er sie geschrieben hätte. Ich erhalte dann die Aufgabe, Gegenargumente zu finden. Diese Umkehrung hilft, meine eigenen Biases objektiver wahrzunehmen und den Blind Spot zu schwächen.
Der Blind Spot Bias ist sicher einer der schwierigsten Biases, die wir umgehen sollten. Denn er stellt unsere so erwünschte Rationalität in Frage. Vielleicht müssen wir es einfach wie Sokrates handhaben und immer hinterfragen, was wir zu wissen meinen.
Sind diese Erklärungen und Beispiele über Bias interessant?
Dann lesen Sie unseren nächsten Blog Post in der Serie über Unconscious Bias: “Kompetenz / Sympathie Bias - und wie sich dieser auf Frauen und Männer im Bewerbungsverfahren auswirkt".
Auch: Biases wirken sich darauf aus, wie wir Stellenanzeigen schreiben. Um die unbewusste Voreingenommenheit in dieser Situation zu umgehen, können Sie diversifier.witty.works verwenden - und damit verhindern, dass Sie eine Sprache verwenden, die negative, unbewusste Auswirkungen auf Ihre potenziellen Bewerber*innen hat.
Quellen:
(1) Pronin, E.; Lin, D. Y.; Ross, L. (2002). "The Bias Blind Spot: Perceptions of Bias in Self Versus Others". Personality and Social Psychology Bulletin. 28 (3): 369–381
(2) Scopelliti, I., Morewedge, C.K., McCormick, E., Min, H.L., Lebrecht, S., & Kassam, K.S. (2015). Blind spot bias: Structure, measurement, and consequences. Management Science, 201561:10